4 3 2021 | moproweb.de
Kein Ersatz,
sondern Ergänzung
Enormes Potenzial für naturidentische Milchinhaltsstoffe
mi | mi-Meinung
Bei kritischer Betrachtung
kann festgestellt
werden, dass die Milchindustrie
die Entwicklung
des Marktes für pflanzliche
Mopro-Alternativen erst spät mitgestaltet.
Sonst hätten sich wohl
keine ernstzunehmenden Wettbewerber
wie Alpro oder Oatly
etablieren können. Zur Entschuldigung
ist jedoch anzuführen, dass
der Markt für Substitute erst in
allerletzter Zeit wirkliche Dynamik
zeigt, während er zuvor jahrelang
einen Dornröschenschlaf im elitären
Naturkostfachhandel führte.
Zu hoffen bleibt, dass die Branche
den sich gerade bildenden
Markt für naturidentische Proteine
und möglicherweise auch Fette als
relevant erkennt. Die Rede ist von
„cellular agriculture“, d. h. die Herstellung
von Milchkomponenten
durch „precision fermentation“
und „stem cell cultivation“. Von
gentechnisch veränderten Hefezellen
erzeugtes Casein oder Molkenprotein
wird aller Wahrscheinlichkeit
nach zwar niemals originäre
Milch komplett verdrängen können,
ebenso wie pflanzliche Ersatzprodukte
wohl eher ein begrenztes
Substitutionspotenzial haben. Aber
es tun sich Märkte auf, wenn auf
Sicht auch nur ein paar Prozent der
weltweit erzeugten Milchinhaltsstoffe
von den neuen Verfahren
beigesteuert werden, sprechen
wir schnell von einer Rohstoffmenge
in der Größenordnung z. B.
der deutschen Milcherzeugung.
Daher spricht alles dafür, dass sich
Molkereiunternehmen mit den
neuen von der Fermentationstechnik
eröffneten Möglichkeiten
befassen. Pioniere wie Tnuva oder
Hochland bekennen sich öffentlich
zu einer solchen, wohl nur von
hoffnungslosen Traditionalisten
so bezeichneten Grenzüberschreitung
in Form einer Beteiligung an
entsprechenden Startups. Von
anderen (privaten) Unternehmen
hört man nur, dass sie überlegen,
sich über außerhalb der Unternehmung
angelegten Kriegskassen zu
engagieren. Aber wo bleiben Konzerne
wie Lactalis, FrieslandCampina,
Arla oder Nestlé? Lassen sie sich
sehenden Auges vom Big Money
(Gates, das saudische Königshaus
usw. investieren fleißig in Startups)
sprichwörtlich die Butter vom Brot
nehmen?
Naturidentische Milchinhaltsstoffe
werden in der EU auf Sicht
wohl kaum große Konkurrenz
entfalten. Anders verhält es sich
in Regionen, in denen eine Milcherzeugung
schlicht keinen Sinn
macht wie etwa in der saudischen
Wüste, in Ländern, in denen noch
immer ein Teil der Bevölkerung
hungert, oder in Staaten, die eine
möglichst hohe Selbstversorgung
anstreben wie z. B. Singapur oder
China. Dort dürften von einer ohnehin
oft technikaffinen Verbraucherschaft
Fermenterprodukte
schnell und gern aufgenommen
werden. Von der Einsparung in
einer Milchwirtschaft anfallender
Beiprodukte mit geringerem Wert
bis hin zu den Stierkälbern oder
der Problematik des Viehexports
abgesehen, werden die Nachhaltigkeitsvorteile
der Fermenterprodukte
hinsichtlich Platz- und
Ressourcenbedarf voll zum Tragen
kommen.
Eher in den Hintergrund geraten,
aber im Moment evtl. sehr viel erfolgversprechender
als bloß Milch
oder Käse nachzubauen dürfte daher
die Gewinnung von einzelnen,
hochwertigen Milchinhaltsstoffen
wie z. B. Lactoferrin oder spezieller
Molkenproteine sein, die als Ingredients
z. B. in die Säuglingsnahrung
gehen. Christian Pichler von der
Investmentholding GERBER-RAUTH
(welche durch die Tochtergesellschaft
L’INTERFORM in der traditionellen
Milchindustrie tätig ist, aber
auch verstärkt Projekte und Investitionen
im Bereich „plant-based
dairy alternatives“ und „cellular agriculture“
verfolgt) ist überzeugt,
dass genau hier zumindest am Anfang
der Königsweg für die Etablierung
der neuen Inhaltsstoffe liegen
wird. Beispiel ist der Markt für
hochwertiges Spezial-Babyfood,
der fermentativ produzierte GOS
und HMO förmlich aufsaugt, wobei
die Hersteller dieser Ingredients
prächtig verdienen.
Alles in allem ist ein rein auf
Deutschland oder Europa konzentrierter
Blick für die Milchindustrie
nicht zielführend, wenn es um Teilhabe
an Zukunftsmärkten geht. Wir
erleben im Augenblick eine neue industrielle
Revolution, nicht nur in der
IT, sondern auch im Bereich der Nahrungsmittelherstellung.
Wer hier auf
der Gewinnerseite bleiben will, sollte,
nein muss sich mit den neuen Möglichkeiten
befassen. Natürlich wird es
auch Gewinner auf der traditionellen
Seite geben, denn für echten Käse
usw. wird es immer eine Nachfrage
geben. Die Unternehmen müssen
eben entscheiden, wo sie hinwollen,
meint Roland Soßna.
ROLAND SOSSNA
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