4 4 2020 | moproweb.de
Kann Frankenstein-
Protein Milcheiweiß
ersetzen?
Ja und nein
mi | mi-Meinung
Roland Sossna
Redaktion
Ein in den USA und im UK
ansässiger Thinktank
sagt den Zusammenbruch
der weltweiten
Milchwirtschaft voraus. Welche
Argumente RethinkX dafür vorbringt,
finden interessierte Leser
in einem separaten Beitrag auf
Seite 6 dieser Ausgabe. Man ist
versucht, all dies als typisches
Blabla abzutun, das konstant von
Heerscharen von Analysten aller
Art von sich gegeben wird. Gut
klingender, aber sinnleerer Blödsinn,
der mehr auf Vermutungen,
Ideologie und Visionen als
auf Tatsachen basiert, und zum
Glück nie Realität wird. Aber in
den Ausführungen von RethinkX
sind einige Fakten, an denen die
Milchbranche – Erzeuger wie Verarbeiter
– nicht so einfach vorbeigehen
kann.
Kurz gesagt geht es um die
fermentative Herstellung von
Milcheiweiß mittels genmanipulierter
Mikroorganismen. Die
Endprodukte, Casein und Molkenproteine,
sind naturidentisch,
allein kommen sie nicht von der
Kuh, sondern aus einem Tank. Die
funktionellen Eigenschaften des
Retorteneiweißes sind exakt dieselben
wie die seiner natürlichen
Vorbilder. Und damit sind seiner
Verwendung im Prinzip die gleichen
Türen geöffnet wie den nativen
Milchproteinen. Im Prinzip.
Denn es wird wohl kaum darum
gehen, qualitativ hochwertige
Käse herzustellen. Eine Substitution
dürfte aber durchaus stattfinden,
und zwar im B2B-Markt
bei den Weiterverarbeitern. Zu
denken wäre hier wohl eher nicht
an die Kindernährmittelhersteller,
sondern an Produzenten von
Spezialprodukten, die sich z. B. an
Sportler wenden, oder auch an
den Einsatz künstlicher Milcheiweiße
in der klinischen Ernährung.
Diese Absatzsektoren dürften
eher Vorteile sehen, wenn sie sich
von der echten Milch lösen können.
Einmal im Hinblick auf eine
de facto vegane Auslobung, zum
anderen auch hinsichtlich der
Möglichkeit, Kontaminanten und
Rückstände weitgehend auszuschließen,
da man die Zusammensetzung
von Fermenterbrühen ja
ganz genau einstellen kann und
eben nichts der Willkür der Natur
überlassen bleibt. In der Folge
könnten Casein, WPC und WPI
durchaus Marktanteile verlieren.
Denkbar ist daneben, dass Fermenterprotein
Milcheiweiß in Regionen
substituieren könnte, die
es nicht so genau mit dem Verbraucherschutz
nehmen und wo
noch eher nur der reine Grundbedarf
gedeckt werden muss. Würde
sich dies so einstellen, würden
die heutigen Exporteure von
Mopro durchaus nennenswerten
Absatz verlieren. Denn einen
Fermenter kann man quasi überall
aufstellen, in einem Entwicklungsland
ebenso wie in urbaner
Umgebung. Dies bedeutet nichts
anderes als eine Dezentralisierung
der Proteingewinnung. Dies
wiederum würde Investitionen
in Milchverarbeitungsstandorte
gefährden oder ganz in Frage
stellen. Hinzu kommt, dass – sollte
RethinkX Recht behalten – die
Kunsteiweiße bei gleichem Nährwert
deutlich preiswerter herstellbar
sein werden als originäres
Milchprotein.
Größer Nachteil der Fermentereiweiße
ist sicher ihr Frankenstein
Charakter. Bei weitem
nicht alle Verbraucher werden
Feststoffe aus einer Vergärung
verzehren wollen. Außerdem ist
die Frage nach dem Fett unbeantwortet.
‚Milchfett‘ kann zwar
auch synthetisch hergestellt
werden, aber nur zu deutlich höheren
Kosten. Und Milch ist und
bleibt eben ein Gemisch aus Hunderten
von Stoffen, so komplex,
dass sie auf Sicht nicht von der
Biotechnologie nachgemacht
werden kann.
Am Ende braucht es immer
noch Verarbeitungskapazitäten,
um aus den Rohstoffen, gleich
welcher Art, Verbraucherprodukte
herstellen zu können. Ob
eine so stark konsolidierte Branche
wie die Milchindustrie hier
die Nase weiter vorn haben wird,
oder ob „überall“ kleine Produktionsstätten
für die lokale Versorgung
aus dem Boden sprießen
werden, ist offen. Will die Milchwirtschaft
das Heft in der Hand
halten, muss sie sich ggf. auch
für die neuen Proteine öffnen,
ähnlich wie sie es aktuell bei den
pflanzlichen Alternativprodukten
tun sollte, denkt Roland Soßna.