In keinem Land Europas wird so viel Kindergeld (monatlich 184 Euro) gezahlt; seit einem Jahr gibt es zusätzlich Betreuungsgeld (monatlich 150 Euro) sowie zusätzlich ein Kinderzuschlag für Geringverdiener von bis zu 140 Euro pro Kind – dennoch sieht die Ernährung bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland desolat aus: Zwei von drei Kindern müssen nach einer Studie der WHO und der Universität Bielefeld mit leerem Magen in die Schule gehen, bei Jugendlichen sind es noch mehr. Ebenfalls 40 Prozent erhalten keine warme Mahlzeit. Zugleich steigt der Konsum von Süßigkeiten, salzigen Snacks, Limonaden, Colas und sogar Energydrinks immer weiter an, da Kinder so viel Taschengeld wie noch nie erhalten (27,56 Euro im Monat, Quelle: Kids VA 2013).
Die Europäische Kommission hat diese prekäre Ernährungslage erkannt und schiebt deshalb Initiativen und Förderprogramme für kostenlose gesunde Lebensmittel in der Schule an. Im Gegensatz zur deutschen Politik setzt die EU nicht auf mehr und immer noch mehr Geld für Eltern, sondern auf Sachleistungen für Kinder. Kostenlos an Schulen abgegebenes Obst und die Subventionierung von Schulmilch und –Kakao sollen für mehr Chancengleichheit sorgen. „Die Initiativen der EU sind richtig, denn es zeigt sich, dass das an die Eltern gezahlte Geld oft nicht bei den Kindern ankommt. Die soziale Herkunft spiegelt sich in Deutschland sehr stark in der Fehlernährung und Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen“ sagt Prof Dr. Günter Eissing, Professor für Gesundheitsförderung und Verbraucherbildung, der an der TU Dortmund unter anderem Schuleingangsuntersuchungen auswertet und dessen Forschung vom Land NRW gefördert wird. Prof. Dr. Eissing untersucht unter anderem die Bedeutung von Milch und Kakao-Angeboten in den Schulen und ihren Einfluss auf die schulischen Leistungen der Kinder.
Rückgang der Schulmilch
Dennoch: Trotz EU-Förderung geht der Absatz von Schulmilch seit Jahren drastisch zurück: Seit 1993 sank der Absatz bundesweit um 77,5 Prozent – allerdings je nach Bundesland deutlich unterschiedlich: Während in Hamburg, Bayern und Baden-Württemberg Milch und Kakao aus den Schulen nahezu verschwunden sind, ist der Rückgang in Ländern wie Nordrhein-Westfalen und Berlin vergleichsweise gering oder sogar gegen den Trend gestoppt worden. „Hier spiegeln sich auch unterschiedliche Ansätze in der Sozial- und Schulpolitik“ erläutert Prof. Dr. Eissing, „NRW ist im Bereich der Ernährungspolitik bei Kindern Vorreiter in Deutschland.“
Die Landesregierung in Nordrheinwestfalen setzt seit Jahren auf Ernährungsprogramme in den Schulen, bestehend aus Schulmilch, -Kakao und -Obst, aber auch auf Erziehung zur bewussten Ernährung. In dem Bundesland mit seinem hohen Anteil an Migranten und Kindern aus sozial schwachen Familien kooperieren das Schulministerium und das Ernährungsministerium, um über eine Verbesserung der Ernährung für Chancengleichheit zu sorgen. Hinzu kommen Initiativen der Milchwirtschaft in NRW, die unter anderem gemeinsam mit dem Landfrauenbund Kinder über landwirtschaftlich erzeugte Lebensmittel aufklären. Resultat: In NRW wurde der Rückgang der Schulmilch inzwischen gestoppt. Auch in Berlin ist die Ernährungspolitik Teil der Sozialpolitik; hier gibt es zahlreiche Eltern-Initiativen, die die Verteilung der Schulmilch in die Hand genommen haben. Die zahlreichen Initiativen für eine ausgewogene Kinderernährung zeigen bereits erste positive Resultate: Laut Prof. Eissing ist der Trend zum Übergewicht bei Kindern insgesamt gestoppt oder sogar ganz leicht rückläufig. Lediglich bei starker Fettleibigkeit nehmen die Extremformen zu.
Trotz der Erfolge in NRW ist bundesweit noch keine Trendumkehr in Sicht: „Die Gründe für den Rückgang sind vielfältig“ erläutert Jens Nölling, Vertriebs- und Marketingdirektor für den Bereich Schulmilch bei FrieslandCampina Germany („Landliebe“). „Frischmilch in speziellen, kleinen und kindgerechten Verpackungen in die Schulen zu bringen, erfordert eine eigenständige Vertriebsorganisation und kindgerechte Verpackungsgrößen. Angesichts der hohen Kosten und geringen Erträge haben sich viele unserer Konkurrenten aus den Schulen zurückgezogen.“
Kostenlos?
Wäre es nicht die Lösung aller Probleme, wenn die Schulmilch kostenlos wäre – und gar kein Geld mehr eingesammelt werden müsste? Nölling widerspricht: „Auch wenn es paradox klingt: Eine kostenlose Abgabe, wie sie die EU-Kommission vorgeschlagen hat, könnte das Ende der Schulmilch bedeuten.“ Hintergrund: Die EU schlägt vor, die Schulmilchförderung mit dem Schulobstprogramm zusammen zu legen – das Budget für die Milch von derzeit 68 Millionen Euro für eine kostenlose Verteilung jedoch nur auf 80 Millionen Euro anzuheben. Die Bundesländer stehen jetzt vor der Aufgabe, Umsetzungsvorschläge für die kostenlose Schulmilch zu erarbeiten. Jens Nölling: „Dies würde bedeuten, dass Schulen für die kostenlose Abgabe gezielt ausgewählt werden müssen – also insgesamt viel weniger Schulen teilnehmen können als heute. Außerdem soll die Förderung im derzeitigen Entwurf nur für pure Trinkmilch gelten und nicht mehr für Kakao, was die Mengen weiter drastisch verringern würde. In Zahlen ausgedrückt würde das geförderte Äquivalent von derzeit 30.000 Tonnen auf 9.000 Tonnen Milch fallen. Auf diese Weise ist es jedoch für Molkereien nicht mehr möglich, einen gesonderten, flächendeckenden Vertrieb aufrecht zu erhalten. Gut gemeint ist eben oft das Gegenteil von gut.“
Foto: Informationsbüro Schulmilch