Dr. John Lucey, Direktor des US-amerikanischen Center for Dairy Research, präsentiert in der Fachzeitschrift Dairy Foods Gedanken zu tierfreier „Milch“.
Lucey warnt aus einer Sicht als Milchchemiker: Solange wir uns Milch nicht als eine einfache Mischung aus einigen Grundbestandteilen mit hinzugefügter Farbe vorstellen, werden sich die Vorhaben der Startups im Bereich tierfreier Alternativprodukte in absehbarer Zeit wohl nicht verwirklichen lassen.
Zur Beschreibung dieser “neuartigen” Prozesse werden verschiedene Begriffe verwendet. Ein gängiger Begriff ist die Präzisionsfermentation, die seit mehr als 30 Jahren zur Herstellung von rekombinantem Kälberlab verwendet wird. Es ist nicht verwunderlich, dass Start-up-Unternehmen dieselbe Technologie anwenden, um ein einzelnes Milchprotein herzustellen. Einfache funktionelle Proteine mit ausreichendem Wert werden seit Jahrzehnten von der Enzym- und Milchindustrie auf diese Weise kommerziell hergestellt. Es stellt sich jedoch die Frage, ob dieser Ansatz auch für die Vervielfältigung von Milch verwendet werden kann.
Komplikationen bei der Nachbildung von Milch
Die Herausforderungen bei der Nachbildung von Milch sind gewaltig. Zunächst einmal liegen die Kaseine in der Milch in Form von Kaseinmizellen vor, d. h. großen, komplexen Aggregaten aus vier Kaseinproteinen. Es wären also vier Fermentierungssysteme erforderlich, um all diese Kaseine herzustellen.
Obwohl Mikroben die Kaseine durch Fermentation herstellen könnten, sind diese Mikroben nicht in der Lage, den ungeheuer komplexen Prozess zu replizieren, den Kaseine in den Euterzellen von Kühen durchlaufen. Man nennt diese Prozesse posttranslationale Modifikation.
Kaseine erhalten ihre Funktionalität – wie ihre Fähigkeit, Kalzium zu binden oder durch Lab bei der Käseherstellung destabilisiert zu werden – durch eine Reihe komplexer Prozesse in den Eutertzellen. Hier verändern verschiedene spezialisierte Enzyme – in Zusammenarbeit mit Salzen wie Kalzium und Phosphaten sowie komplexen Zuckern – die Kaseine. Nicht alle beteiligten Enzyme sind bekannt oder im Handel erhältlich.
Die Reaktionsbedingungen und die Raten/Konzentrationen für die Zugabe der Komponenten zu den Proteinstrukturen werden sorgfältig kontrolliert, um Proteinausfällungen zu vermeiden. Das Endergebnis dieser komplexen biochemischen Prozesse ist der Zusammenbau von Kaseinen zu natürlichen Biostrukturen, den Kaseinmizellen.
Denkanstöße
Einige Unternehmen behaupten, dass sie Käse aus tierfreien “Molkereiproteinen” herstellen können. Lucey genießt diese Behauptungen mit Vorsicht, denn ohne die Bildung von Kaseinmizellen lässtsich kein Lab zur Gerinnung von Milch verwenden. Stattdessen könnten, ähnlich wie bei der derzeitigen Herstellung von “Käse” auf pflanzlicher Basis, verschiedene Zutaten zusammengemischt werden, um gelierte Produkte zu bilden, die als “Käsealternativen” bezeichnet werden.
Eine weitere Frage ist, ob ein mikrobieller Fermentationsprozess eines Tages Milch billiger als Kuhmilch produzieren könnte (sofern alle Herausforderungen der Biosynthese überwindbar sind). Diese Behauptung erscheint sehr zweifelhaft. Das Verdauungssystem der Kuh umfasst eine komplexe mikrobielle Fermentation im Pansen.
Die industrielle Fermentation erfordert Ausgangsstoffe und andere Inputs, die auch für die menschliche Ernährung verwendet werden könnten. Sie erfordert erhebliche gentechnische Eingriffe und Verarbeitung, um einige Komponenten zu produzieren, denen die Vielfalt und Komplexität fehlt, die in einem natürlichen biologischen Material wie Milch zu finden sind.
Eine andere mögliche Technologie zur Herstellung von Kuhmilch könnte die Zellkultur sein. In diesen aus dem Euter von Kühen gewonnen Zellen würden alle komplexen Enzyme/Prozesse ablaufen, die erforderlich sind, um die Milchbestandteile zu verändern und zusammenzusetzen, die bei der mikrobiellen Fermentation fehlen. Die Züchtung von Zellen in Bioreaktoren ist jedoch sehr komplex und extrem teuer. Dieser Prozess wäre nicht tierfrei, da tierische Zellen die Milch produzieren würden, allerdings nun im Labor und nicht in der Kuh.
„Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es trotz des großen Interesses und der großen Öffentlichkeitswirkung für mich nicht offensichtlich ist, dass es eine kosteneffiziente, nachhaltige Methode zur Herstellung von tierfreier “Milch” gibt, die immer noch die natürlichen komplexen Strukturen wie Kaseinmizellen und Fettkügelchen enthält, für die Milchverarbeitung wie echte Milch funktioniert oder die verschiedenen Nährstoffkomponenten enthält. Wir können Millionen von Jahren der Evolution nicht so einfach verbessern“, kommentiert Lucey.
Foto: Leerdammer