Autor: Dr. Tobias Richter, Geschäftsführender Direktor (CSO), MULTIVAC Group
Produktionskosten steigen, Fachkräfte sind rar, der Wettbewerb bleibt hart – die Lebensmittelindustrie steht unter Hochdruck. Laut DLG-Trendmonitor 2024 reagieren Hersteller zunehmend mit Investitionen in Automatisierung, Nachhaltigkeit und Digitalisierung – nicht nur, um kurzfristig effizienter zu produzieren, sondern um ihre Zukunftsfähigkeit abzusichern. Die Branche steht an einem Wendepunkt. Aktuelle Entwicklungen zeigen bereits, wohin die Reise geht und welche Antworten die Lebensmittelindustrie auf die drängendsten Fragen von morgen findet.
Trend 1: Alles aus einer Hand – Komplettlösungen statt Flickenteppich
Die aktuellen Herausforderungen lassen Lebensmittelherstellern kaum Spielraum für Ineffizienzen. Immer mehr Unternehmen vertrauen daher auf Komplettlösungen aus einer Hand, die von der Verarbeitung über die Verpackung und Kennzeichnung bis hin zur Inspektion alle Produktionsschritte abdecken. Der Vorteil ist offensichtlich: Anstatt einzelne Module verschiedener Hersteller miteinander zu verknüpfen, entstehen durchgängige Systeme, die von Beginn an aufeinander abgestimmt sind. Das reduziert Schnittstellenprobleme, vereinfacht die Wartung und erhöht die Anlagenverfügbarkeit. Wer auf eine integrierte Lösung setzt, schafft außerdem die optimale Grundlage für zukünftige Automatisierungslösungen. Diese lassen sich einfacher umsetzen, wenn Steuerungen und Datenflüsse bereits harmonisiert sind.
Trend 2: Schlank verpackt, sicher geschĂĽtzt
Hersteller sehen sich aktuell mit steigenden Rohstoffpreisen, wachsenden regulatorischen Anforderungen und Nachhaltigkeitszielen konfrontiert. Die Reduktion von Material – etwa dünnere Folien oder leichtere Trays – verspricht einen doppelten Nutzen: Sie senkt Kosten und erfüllt gleichzeitig ökologische Vorgaben. Selbstverständlich müssen Verpackungen dennoch in erster Linie die Produktsicherheit gewährleisten. Die Branche reagiert mit Maschinen, die dünnere Folien ebenso wie recyclingfähige Monomaterialien oder papierbasierte Alternativen prozesssicher verarbeiten, und mit Inspektionssystemen, die Undichtigkeiten oder Fehler frühzeitig erkennen. Denn Materialreduktion funktioniert nicht als isolierter Ansatz, sondern nur in Kombination mit innovativer, auf die Materialien abgestimmter Verpackungstechnik und smarter Qualitätskontrolle.
Trend 3: Produktwechsel im Sprint
Die Nachfrage nach immer kleineren Losgrößen und größerer Produktvielfalt lässt klassische Produktionslinien schnell an ihre Grenzen stoßen. Jeder Produktwechsel bedeutet Zeitverlust, Umrüstaufwand und damit oft unnötige Kosten. Bei neuen Linienkonzepten lassen sich Artikelwechsel daher im laufenden Betrieb – sozusagen „on the fly“ – realisieren. Während am Ende der Linie noch die letzten Verpackungen eines Produkts vom Band gehen, stellt sich die Anlage Abschnitt für Abschnitt bereits auf den nächsten Artikel um. Das Ergebnis: Produktionsstopps und Leerlaufzeiten werden auf ein Minimum reduziert und Kapazitäten optimal ausgenutzt. So lässt sich die Ausbringungsmenge um bis zu zehn Prozent steigern – bei gleichem Maschinen- und Personaleinsatz.
Trend 4: Wartung, die vorausdenkt
Verzögerungen in der Produktion – etwa bei der Belieferung des Lebensmitteleinzelhandels – können hohe Strafzahlungen zur Folge haben, die schnell die gesamte Marge eines Produkts zunichtemachen können. Entsprechend hat die Anlagenverfügbarkeit heutzutage eine viel höhere Bedeutung als noch vor einigen Jahren. Predictive-Maintenance-Lösungen setzen genau hier an. Sensoren überwachen kontinuierlich den Zustand kritischer Komponenten und liefern Daten über Temperaturen oder Verschleißmuster. So lassen sich drohende Ausfälle frühzeitig erkennen, noch bevor es zu einem Stillstand kommt. Wartungsarbeiten können gezielt geplant und in produktionsarme Zeiten verlegt werden und auch die Lebensdauer der Anlagen verlängert sich.
Trend 5: KI-gestützte Vision-Systeme – smartes Auge auf jeder Packung
KI-gestützte Vision-Systeme eröffnen eine neue Dimension der Qualitätskontrolle, indem sie mit zuvor trainierten Modellen anstelle von starren Algorithmen arbeiten. Dabei wird ein aktuelles Produktbild mit einem Referenzmodell verglichen. Anhand eines festgelegten Toleranzwerts entscheidet das System, ob die Abweichung noch akzeptabel ist und sortiert das Produkt aus, wenn sie über einem bestimmten Schwellwert liegt. Nützlich wird die Technologie dort, wo regelbasierte Systeme an ihre Grenzen stoßen: bei der Klassifikation von Produkten, der Portionskontrolle oder ästhetischen Bewertungen. Solche Systeme können viel flexibler mit komplexen Fehlerbildern umgehen, auch auf Hochgeschwindigkeitslinien. Auch in anderen Anwendungsfeldern wird der Einsatz von KI zukünftig dazu beitragen, die Effizienz der Produktionsprozesse zu steigern und Qualität, Sicherheit und Innovationskraft der Lebensmittelbranche nachhaltig zu verbessern.
Fazit: Flexibel bleiben, vorne bleiben
Die Lebensmittelindustrie gilt als „schlafender Riese“ in Sachen Automatisierung und Digitalisierung. Gerade bei mittelständischen Unternehmen gibt es häufig noch ungenutztes Potenzial. Betriebe, die diese aktuellen Trends konsequent nutzen, verwandeln Herausforderungen in Wettbewerbsvorteile und bleiben in einem dynamischen Markt handlungsfähig.